Du kennst das, liebe ständig wachsende Fangemeinde: Da freut man sich auf einen Abend oder eine Veranstaltung und geht dann einigermaßen enttäuscht nach Hause. Wenn du dich aber auf einen Abend freust und der dann noch besser verläuft als erwartet: Dann war SEM in Kerzell.

Von Steffen Reith

Für die jungen Fans unter euch: Hinter den Buchstaben SEM verbirgt sich ein mobiler Discoveranstalter, der Ende der 80er, Anfang der 90er die größten Zelte in Osthessen füllte. Der Frontmann DJ Erwin ist bis zum heutigen Tag ne große Nummer in der heimischen Unterhaltungsszene. SEM war überall total erfolgreich, aber das Mekka der Zeltdiscos war in der Tat mein Heimatort Kerzell. Die Kombination SEM und Kerzell sorgte für volle Zelte und volle Kassen beim Ausrichter.

Ende April beziehungsweise Anfang Mai war es regelmäßig der Musikverein Lyra Kerzell, der die SEM-Saison eröffnete. Oft genug war es recht schwierig, ins Zelt – geschweige denn – an die Theke zu kommen. Viele Beziehungen begannen auf dem Festplatz in Kerzell, einige endeten auch dort. Aber das sind andere Geschichten, die eigentlich mal gesondert erzählt werden müssten.

Nun wurde der Musikverein 75 Jahre alt. Und die Verantwortlichen wollten dieses Fest groß feiern. Wie früher: Mit ordentlich Blasmusik – und eben mit SEM. Das konnte ich ja fast nicht glauben. Ne fette Vorfreude steckte ja schon lange in mir. Und spätestens als das Zelt stand, war mir klar: Das wird ein guter Abend.

Als ich dann am vergangenen Freitag dort aufschlug, da war fast alles wie früher. Einige hatten tatsächlich ihre alten Jeansjacken aus der hintersten Ecke des Schranks geholt, einige waren so gar nicht gealtert, andere schon. Nicht sicher weiß ich, ob sich einige Mädels extra für diesen Abend ne Dauerwelle haben machen lassen oder einfach die Frisur seit 30 Jahren nicht geändert wurde. Bei vielen Jungs kann man übrigens von Frisur gar nicht mehr reden. Jedenfalls gab es das größte Klassentreffen, das Osthessen je gesehen hat. Keine Ahnung, wie viele Leute da waren. Ich will auch nicht schätzen, sonst kriegen der Musikverein oder der Erwin noch Ärger mit dem Finanzamt. Aber mehr als 1000 dürften es gewesen sein.

Und ganz oben der Erwin. Der ist mittlerweile über 70, hat immer noch die Frisur von früher. Anders war, dass er nicht mehr Hunderte von Platten schleppen musste. Und anders war auch, dass viele Menschen zu ihm kletterten, um Selfies mit ihm zu machen. So wie ich, siehe das Bild für diesen Blogtext. Der Erwin sah übrigens gar nicht ein, irgendein Lied zu spielen, das jünger als 25 ist. „Wenn jemand Helene Fischer hören will, dann ist er hier fehl am Platz“, gab er via Mikrofon zum Besten. Um 22.06 Uhr spielte er „Tarzan Boy“, um 22.56 Uhr „Daydream“, dann läutete er die Hardrock-Runde ein.

Manche SEM-Mechanismen schlummerten in mir und kamen zügig zum Vorschein: Zum Beispiel, dass man beim Getränke bestellen auch mal den Heimvorteil nutzen muss. Wenn du nämlich in Reihe sechs an der Theke stehst, ist es immer sinnvoll, einfach den Namen des Zapfers zu rufen. Irgendwann schaut er hoch und reicht dir Bier, obwohl du noch gar nicht dran bist. Hat früher geklappt, funktioniert auch 30 Jahre später noch.

Und es gibt Dinge, die funktionieren bei SEM heute sogar besser als früher. Zum Beispiel spricht man die Leute viel offener an. Diese immense Schüchternheit, unter der ich früher furchtbar litt, ist tatsächlich etwas geringer geworden. Dafür ist mein Budget gewachsen. Früher musste ich schon genau überlegen, wann, wofür und für wen ich an einem solchen Abend Geld ausgebe. Da muss ich heute nicht mehr ganz so stark drauf achten. Dass ich natürlich nicht mehr so viel Geld brauche, um einen gewissen Pegel zu erreichen, gehört auch zur Wahrheit.

Ich habe es ja schon erwähnt: Es war ein toller Abend, der alle Erwartungen übertroffen hat. Andererseits hoffe ich jetzt nicht, dass jeder Feld-, Wald- oder Wiesenverein anfängt, SEM zu holen. Da hat der Erwin aber auch schnell nen Riegel vorgeschoben: „So was funktioniert nur in Kerzell.“ Hat er so gesagt.

Aber bis zum 100. Geburtstag des Musikvereins sollte man auch nicht warten. Da wäre das Zelt nicht mehr ganz so voll. Und wer soll dann den Blogtext schreiben?

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